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Zeitgeschichtliches Archiv

25 April 2024

Aus: Ausgabe vom 02.03.2022, Seite 3 / Schwerpunkt

Historie

Arbeit im Schlamm

Zeitgeschichtliches Archiv in Berlin vor Zerstörung: Einmalige Sammlungen von Zeitungsausschnitten aus Ost und West von 1946 bis 1992 enthalten

Von Arnold Schölzel

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nik/jW

Geschichtsvergessen: Die Halle, in der zahlreiche Dokumente lagern, droht abgerissen zu werden

Chronik: Zeitgeschichtliches Archiv

1994: Rettung des Zeitungsausschnittsarchivs des Verlags Neues Deutschland durch das Berlin-Brandenburgische Bildungswerk e. V. (BBB) mit Hilfe Hunderter Berliner Freiwilliger. Zwischenlagerung in einem leerstehenden Gebäude in Brandenburg.

Unter dem Titel »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« erschien in der DDR 1982 ein im Vorjahr auf Russisch veröffentlichter Roman des kirgisischen Dichters Tschingis Aitmatow. Er schildert darin eine archaische unmenschliche Sitte zentralasiatischer Stämme: Gefangenen jungen Männern wird auf grausame Weise das Gedächtnis genommen. Sie werden willenlose »Mankurts«.

Als der Autor dieses Berichts am Dienstag vor einer Woche das Zeitgeschichtliche Archiv (ZGA) in Berlin-Marzahn betrat, traf kurz nach ihm eine Abgesandte des Bezirksamtes Marzahn-Hellersdorf ein, eine Sachbearbeiterin. Sie war geschickt worden, um mitzuteilen: Wird die Miete für die alte Industriehalle, in der das ZGA untergebracht ist, nicht bezahlt, wird das Archiv »zwangsgeräumt bis zum Ende des Monats«. Sie nannte den Monat nicht, es ist auch egal. Denn der Archivsammlung auf 700 Quadratmetern droht der Schredder. Dabei enthält sie Einmaliges: Geordnet nach Sachgebieten, Personen und Ereignissen finden sich hier Zeitungsausschnitte aus Ost und West aus den Jahren von 1946 bis 1992. Danach kam das Internet und schuf geistiges Chaos. Wer alles aufhebt, erinnert sich auch an nichts. Der »Mankurt« ist ein Symbol der Epoche, die Bezirksamtsbotin gewissermaßen seine Verkünderin. Als der Dichter Peter Hacks die Übernahme der DDR bedichtete, berichtete er übrigens in »Tamerlan in Berlin« sarkastisch von Banausenbarbarei in »unserer Usbekenzeit«: »In Schinkels Wache tränkt er seine Gäule. / Ein Pferdejunge pisst an eine Säule. / Im Stülerbau verehrt er seine Götzen, / Gemacht von Filz, sie stinken wie die Plötzen.« Und: »Bei Aufbau sitzt ein leitender Usbeke / und druckt nun sein usbekisches Gequäke.«

Makabre Posse

Ohne Reime und ohne Vorwarnung kam die Räumungsdrohung in Marzahn. Ein Gespräch hatte die Leitung des Bezirksamtes – seit November 2021 ist der promovierte Historiker und Sozialdemokrat Gordon Lemm Bürgermeister – nicht für nötig gehalten. Der Umgang sei unter dessen Vorgängerin Dagmar Pohle von der Linken freundlicher gewesen, meint Harald Wachowitz, der Leiter des ZGA. Es gibt in Marzahn, wo Die Linke am 26. September 2021 krachend verloren hat, Telefone.

Wachowitz wirkt von dem beiläufigen Überfall nicht allzu überrascht. Er hat, wie die Chronik des ZGA zeigt, in knapp 30 Jahren seit dem DDR-Anschluss wie alle DDR-Bürger mit Gedächtnis genug »Mankurtisierung« erlebt, dass ihn die makabre Posse nicht mehr trifft. Er drehte Tage zuvor einen ironischen Kurzfilm und stellte ihn auf die Internetseite des Archivs zga-berlin. de. Er lädt darin für den 5. und 6. März zum Besuch des ZGA am diesjährigen »Tag der Archive« ein. Besuchen Sie Geschichte, solange sie noch in Regalen steht.

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Die Archivmaterialien, die zu einem großen Teil in einer Datenbank erfasst sind (Artikelrecherchen sind auf der ZGA-Internetseite möglich), sind eine Eisbergspitze. Das von Wachowitz geleitete Berlin-Brandenburgische Bildungswerk (BBB) hat neben dem ZGA unglaublich viel auf die Beine gestellt: Es wird das auf eigenen Beinen stehende Kultur- und Nachbarschaftszentrum RuDi in Berlin-Stralau hinterlassen, sehenswerte Kataloge von Ausstellungen mit Titeln wie »Antike Mythen in der bildenden Kunst der DDR« oder »Innenansichten. Weltbetrachtungen. Gegenständliche Kunst in Deutschland« oder »Panik im Olymp. Prometheus. Kritische Grafik in der Kunstmappe 1982 des Kulturbundes der DDR« (die Mappe gefiel den Auftraggebern nicht, sie wurde im Einvernehmen mit der Kulturabteilung des ZK der SED nur in einer Kleinstauflage von 60 Exemplaren gedruckt). Das BBB ist eines jener zähen Unternehmen, in denen abgewickelte und mit Strafrente versehene DDR-Wissenschaftler, Politiker, aber auch Menschen ohne jeden Abschluss Arbeit fanden. Sie produzierten CDs (»Der Rechtsextremismus der 90er Jahre«), DVDs (»Die Novemberrevolution« oder Konzert und Gespräch mit Klaus Renft). Wenn Wachowitz erzählt, hört es sich nach Arbeit im und gegen den Schlamm an, in dem die DDR-Geschichte offiziell verklappt wird. Insgesamt konnten 9.000 bis 10.000 Menschen ihr Brot im BBB verdienen, schätzt Wachowitz. Die Zahlen lassen ahnen, welche Schicksale die sogenannte Einheit nach sich zog.

Zählt alles nicht

2007 eröffnete das BBB das ZGA in Marzahn. Vorausgegangen waren die Übernahme der Zeitungsausschnittsammlungen des Neuen Deutschlands, des Tagesspiegels und des DDR-Instituts für Politik und Wirtschaft sowie deren Erschließung. 18,56 Millionen in den Kernbeständen, dazu ungezählte Fotos, es gibt nichts Vergleichbares. Hinzu kommen Raritäten der Publizistik. Kennt jemand die einst populäre Wochenschrift Der Roland von Berlin, 1903 gegründet, 1947 neu herausgegeben, 1950 eingestellt? Hier finden sich die Nachkriegsexemplare.

Zählt alles nicht, die Halle ist zum Abriss vorgesehen, spätestens am 31. Dezember 2022 ist Schluss. Wachowitz und andere halten das ZGA seit 2019 ehrenamtlich offen, haben mit Staatsbibliothek, Bundesarchiv, dem Haus der Geschichte Übernahmen verhandelt. Es wurde gute Arbeit bescheinigt, das war’s. Ende Januar schrieb Wachowitz einen Brief an die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth, eine Antwort erhielt er noch nicht. Der Tagesspiegel hat über die Gefahr für das ZGA berichtet, die RBB-»Abendschau« und der Deutschlandfunk. Wachowitz hat die Beiträge auf der ZGA-Webseite verlinkt. Er hat etwas gegen den Tod eines Gedächtnisses.

Zeitgeschichtliches Archiv. Premnitzer Straße 12 (neben dem Bürohaus), 12681 Berlin. Am »Tag der Archive«, dem 5. und 6. März, jeweils von 10 Uhr bis 15 Uhr geöffnet. S-Bahnhof Mehrower Allee. zga-berlin.de